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Genf, den 14. September 1830.

[ Pniower Nr. 832: Zu meiner großen Freude habe ich aus einem Ihrer letzten Briefe in Genua ersehen, daß die Lücken und das Ende der „Classischen Walpurgisnacht“ glücklich erobert worden. Die drei ersten Acte wären also vollkommen fertig, die „Helena“ verbunden, und demnach das Schwierigste gethan. Das Ende ist, wie Sie mir sagten, schon da, und so wird, wie ich hoffe, der vierte Act sich Ihnen bald überwunden ergeben, ] und etwas Großes wäre zu Stande gebracht, woran künftige Jahrhunderte sich erbauen und üben möchten. Ich freue mich dazu ganz außerordentlich und werde jede Nachricht, die mir das Vorrücken der poetischen Mächte vermeldet, mit Jubel empfangen.

Ich habe auf meiner Reise häufige Gelegenheit gehabt, des „Faust“ zu gedenken und daraus einige classische Stellen anzuwenden. Wenn ich in Italien die schönen Menschen und das Gedeihen der frischen Kinder sah, waren mir die Verse zugegen:

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Hier ist das Wohlbehagen erblich,
Die Wange heitert wie der Mund;
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich,
Sie sind zufrieden und gesund.
Und so entwickelt sich am reinen Tage
Zu Vaterkraft das holde Kind.
Wir staunen drob, noch immer bleibt die Frage:
Ob’s Götter, ob es Menschen sind.

Dagegen wenn ich, von dem Anblick der schönen Natur hingerissen, Herz und Augen an Seen, Bergen und Thälern weidete, schien irgendein unsichtbarer kleiner Teufel sein Spiel mit mir zu treiben, indem er mir jedesmal die Verse zuflüsterte:

Und hätt’ ich nicht gerüttelt und geschüttelt,
Wie wäre diese Welt so schön?

Alle vernünftige Anschauung war sodann mit einem mal verschwunden, die Absurdität fing an zu herrschen, ich fühlte eine Art Umwälzung in meinem Innern, und es war keine Hülfe, als jedesmal mit Lachen zu endigen.

Bei solchen Gelegenheiten habe ich recht empfunden, daß der Poet eigentlich immer positiv sein sollte. Der Mensch gebraucht den Dichter, um das auszusprechen, was er selbst nicht auszudrücken vermag. Von einer Erscheinung, von einer Empfindung wird er ergriffen, er sucht nach Worten, seinen eigenen Vorrath findet er unzulänglich, und so muß ihm der Dichter zu Hülfe kommen, der ihn freimacht, indem er ihn befriedigt.

In diesem Gefühl habe ich denn jene erstern Verse wiederholt gesegnet und die letztern täglich lachend verwünscht. Wer aber möchte sie an der Stelle entbehren, für die sie gemacht sind und wo sie im schönsten Sinne wirken!

Ein eigentliches Tagebuch habe ich in Italien nicht geführt; die Erscheinungen waren zu groß, zu viel, zu schnell wechselnd, als daß man sich ihrer im nächsten Augenblick hätte bemächtigen mögen und können. Ich habe jedoch meine Augen und Ohren immer offen gehabt und mir vieles ge 157merkt. Solche Erinnerungen will ich nun zueinander gruppiren und unter einzelnen Rubriken behandeln. Besonders habe ich hübsche Bemerkungen zur Farbenlehre gemacht, auf deren nächste Darstellung ich mich freue. Es ist natürlich nichts Neues, allein immer ist es erwünscht, neue Manifestationen des alten Gesetzes zu finden.

In Genua hat Sterling für die Lehre ein großes Interesse gezeigt. Was ihm von Newton’s Theorie überliefert worden, hat ihm nicht genügt, und so hatte er denn offene Ohren für die Grundzüge, die ich ihm von Ihrer Lehre in wiederholten Gesprächen habe geben können. Wenn man Gelegenheit hätte, ein Exemplar des Werks nach Genua zu spediren, so könnte ich wohl sagen daß ihm ein solches Geschenk nicht unwillkommen sein würde.

Hier in Genf habe ich seit drei Wochen eine wißbegierige Schülerin an Freundin Sylvestre gefunden. Ich habe dabei die Bemerkung gemacht, daß das Einfache schwerer zu fassen ist als man denkt, und daß es eine große Uebung erfordert, in den mannichfaltigsten Einzelheiten der Erscheinung immer das Grundgesetz zu finden. Dem Geist aber gibt es eine große Gewandtheit, indem die Natur sehr delicat ist und man immer auf der Hut sein muß, durch einen zu raschen Ausspruch ihr nicht Gewalt zu thun.

Uebrigens findet man hier in Genf an einer so großen Sache auch nicht die Spur einer Theilnahme. Nicht allein daß man auf hiesiger Bibliothek Ihre „Farbenlehre“ nicht hat, ja man weiß nicht einmal, daß so etwas in der Welt ist. Hieran mögen nun die Deutschen mehr schuld sein als die Genfer, allein es verdrießt mich doch und reizt mich zu schalkhaften Bemerkungen.

Bekanntlich hat Lord Byron einige Zeit sich hier aufgehalten, und da er die Gesellschaft nicht liebte, so hat er sein Wesen bei Tag und Nacht in der Natur und auf dem See getrieben, wovon man hier noch zu erzählen hat und wovon in seinem „Childe Harold“ ein schönes Denkmal geblieben. Auch die Farbe der Rhône hat er bemerkt, und wenn er auch die Ursache nicht ahnen konnte, so hat er doch ein empfängliches Auge gezeigt. Er sagt in einer Bemerkung zum dritten Gesange:

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„The colour of the Rhône at Geneva is blue, to a depth of tint which I have never seen equalled in water, salt or fresh, except in the Mediterranean and Archipelago.“

Die Rhône, wie sie sich zusammendrängt, um durch Genf zu gehen, theilt sich in zwei Arme, über welche vier Brücken führen, auf denen hin- und hergehend man die Farbe des Wassers recht gut beobachten kann.

Nun ist merkwürdig, daß das Wasser des einen Armes blau ist, wie Byron es gesehen hat, das des andern aber grün. Der Arm, wo das Wasser blau erscheint, ist reißender und hat den Grund so tief gehöhlt, daß kein Licht hinabdringen kann und also unten vollkommene Finsterniß herrscht. Das sehr klare Wasser wirkt als ein trübes Mittel, und es entsteht aus den bekannten Gesetzen das schönste Blau. Das Wasser des andern Armes geht nicht so tief, das Licht erreicht noch den Grund, sodaß man Steine sieht, und da es unten nicht finster genug ist, um blau zu werden, aber nicht flach und der Boden nicht rein, weiß und glänzend genug, um gelb zu sein, so bleibt die Farbe in der Mitte und manifestirt sich als grün.

Wäre ich nun, wie Byron, zu tollen Streichen aufgelegt, und hätte ich die Mittel sie auszuführen, so würde ich folgendes Experiment machen.

Ich würde in dem grünen Arm der Rhône, in der Nähe der Brücke, wo täglich Tausende von Menschen passiren, ein großes schwarzes Bret, oder so etwas, so tief befestigen lassen, daß ein reines Blau entstände, und nicht weit davon ein sehr großes Stück weißes glänzendes Blech in solcher Tiefe des Wassers, daß im Schein der Sonne ein entschiedenes Gelb erglänzte. Wenn nun die Menschen vorbeigingen und in dem grünen Wasser den gelben und blauen Fleck erblickten, so würde ihnen das ein Räthsel sein, das sie neckte und das sie nicht lösen könnten. Man kommt auf Reisen zu allerlei Späßen; dieser aber scheint mir zu den guten zu gehören, worin einiger Sinn vorhanden ist und einiger Nutzen sein könnte.

Vor einiger Zeit war ich in einem Buchladen, wo in dem 159ersten kleinen Duodezbändchen, das ich zur Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in meiner Uebersetzung also lautet:

„Aber jetzt sagt mir: wenn man eine Wahrheit entdeckt hat, muß man sie den andern Menschen mittheilen? Wenn ihr sie bekannt macht, so werdet ihr von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem entgegengesetzten Irrthum leben, indem sie versichern, daß eben dieser Irrthum die Wahrheit, und alles, was dahin geht ihn zu zerstören, der größte Irrthum selber sei.“

Diese Stelle schien mir auf die Art, wie die Männer vom Fach Ihre „Farbenlehre“ aufgenommen, eine Anwendung zu finden als wäre sie dafür geschrieben worden, und sie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe das ganze Buch kaufte. Es enthielt „Paul et Virginie“ und „La Chaumière indienne“ von Bernardin de Saint-Pierre, und ich hatte also auch übrigens meinen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfassers erquickte mich, und seine zarte Kunst, besonders wie er bekannte Gleichnisse schicklich anwendet, wußte ich zu erkennen und zu schätzen.

Auch die erste Bekanntschaft mit Rousseau und Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein Brief nicht selbst zum Buche werde, so will ich über diese sowie über vieles andere, das ich noch sagen möchte, für heute hinweggehen.

Seitdem ich den langen Brief von vorgestern von der Seele habe, fühle ich mich heiter und frei wie nicht seit Jahren, und ich möchte immer schreiben und reden. Es ist mir wirklich das höchste Bedürfniß, mich wenigstens vorderhand von Weimar entfernt zu halten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und sehe schon die Zeit, wo Sie sagen werden, daß ich recht gethan.

Morgen wird das hiesige Theater mit dem „Barbier von Sevilla“ eröffnet, welches ich noch sehen will; dann aber gedenke ich ernstlich abzureisen. Das Wetter scheint sich auch aufklären und mich begünstigen zu wollen. Es hat hier geregnet seit Ihrem Geburtstage, wo es schon morgens früh mit Gewittern anfing, die den ganzen Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhône herauf über den See zogen nach Lausanne zu, sodaß es fast den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer für 16 Sous täglich, das mir die schönste Aussicht auf den See und das Gebirge gewährt. Gestern regnete es unten, es war kalt, und die höchsten Spitzen des Jura zeigten sich nach vorbeigezogenem Schauer zum ersten mal weiß mit Schnee, der aber heute schon wieder verschwunden ist. Die Vorgebirge des Montblanc fangen schon an sich mit bleibendem Weiß zu umhüllen; an der Küste des Sees hinauf, in dem Grün der reichen Vegetation, stehen schon einige Bäume gelb und braun; die Nächte werden kalt, und man sieht daß der Herbst vor der Thür ist.

Ich grüße Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und Walter, Wolf und die Alma herzlich. Ich habe an Frau von Goethe vieles über Sterling zu schreiben, welches morgen geschehen soll.

Ich freue mich, von Euer Excellenz einen Brief in Frankfurt zu erhalten, und bin glücklich in dieser Hoffnung.

Mit den besten Wünschen und treuesten Gesinnungen verharrend.

E.