Goethe’s Schriften.
Siebenter Band.
Leipzig, bey Georg Joachim Göschen, 1790. 1 Faust.
Ein Fragment. 2 3
∞Nacht.
∞ In einem
hochgewölbten, engen, gothischen Zimmer,
Faust unruhig auf seinem Sessel am
Pulte.
∞Faust.
354Habe nun, ach!
Philosophie,
355Juristerey und Medicin,
356Und leider auch Theologie
357Durchaus studirt, mit heißem Bemühn!
358Da steh’ ich nun, ich armer Thor!
359Und bin so klug als wie zuvor;
360Heiße Magister, heiße Doctor gar,
361Und ziehe schon an die zehen Jahr,
362Herauf, herab und quer und krumm,
363Meine Schüler an der Nase herum –
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364Und sehe, daß wir nichts wissen können!
365Das will mir schier das Herz verbrennen.
366Zwar bin ich gescheidter als alle die Laffen,
367Doctoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
368Mich plagen keine Scrupel noch Zweifel,
369Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel –
370Dafür ist mir auch alle Freud’ entrissen,
371Bilde mir nicht ein was rechts zu wissen,
372Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
373Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
374Auch hab’ ich weder Gut noch Geld,
375Noch Ehr’ und Herrlichkeit der Welt.
376Es möchte kein Hund so länger leben!
377Drum hab’ ich mich der Magie ergeben,
378Ob mir, durch Geistes Kraft und Mund
379Nicht manch Geheimniß würde kund;
380Daß ich nicht mehr, mit saurem Schweiß,
381Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
382Daß ich erkenne, was die Welt
383Im Innersten zusammen hält,
384Schau’ alle Wirkenskraft und Samen,
385Und thu’ nicht mehr in Worten kramen.
386O sähst du, voller Mondenschein,
387Zum letztenmal auf meine Pein,
388Den ich so manche Mitternacht
389An diesem Pult herangewacht:
390Dann über Bücher und Papier,
391Trübsel’ger Freund, erschienst du mir!
392Ach könnt’ ich doch auf Berges Höh’n,
393In deinem lieben Lichte gehn,
394Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
395Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,
396Von allem Wissensqualm entladen,
397In deinem Thau gesund mich baden!
398Weh! steck’ ich in dem Kerker noch?
399Verfluchtes, dumpfes Mauerloch!
400Wo selbst das liebe Himmelslicht
401Trüb’ durch gemahlte Scheiben bricht.
402Beschränkt mit diesem Bücherhauf,
403Den Würme nagen, Staub bedeckt,
404Den, bis an’s hohe Gewölb’ hinauf,
405Ein angeraucht Papier umsteckt;
406Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt,
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407Mit Instrumenten vollgepfropft,
408Urväter Hausrath drein gestopft –
409Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!
410Und fragst du noch, warum dein Herz
411Sich bang’ in deinem Busen klemmt?
412Warum ein unerklärter Schmerz
413Dir alle Lebensregung hemmt?
414Statt der lebendigen Natur,
415Da Gott die Menschen schuf hinein,
416Umgibt in Rauch und Moder nur
417Dich Thiergeripp und Todtenbein.
418Flieh! auf! hinaus in’s weite Land!
419Und dieß geheimnißvolle Buch,
420Von Nostradamus eigner Hand,
421Ist dir es nicht Geleit genug?
422Erkennest dann der Sterne Lauf,
423Und wenn Natur dich unterweist,
424Dann geht die Seelenkraft dir auf,
425Wie spricht ein Geist zum andern Geist.
426Umsonst, daß trocknes Sinnen hier
427Die heil’gen Zeichen dir erklärt,
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428Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir,
429Antwortet mir, wenn ihr mich hört!
∞Er schlägt das
Buch auf und erblickt das Zeichen des Makrokosmus.
430Ha! welche Wonne fließt, in diesem Blick,
431Auf einmal mir durch alle meine Sinnen?
432Ich fühle junges, heil’ges Lebensglück,
433Neuglühend mir durch Nerv’ und Adern rinnen.
434War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
435Die mir das innre Toben stillen,
436Das arme Herz mit Freude füllen,
437Und, mit geheimnißvollem Trieb,
438Die Kräfte der Natur ring’s um mich
her enthüllen?
439Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
440Ich schau’ in diesen reinen Zügen
441Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
442Jetzt erst erkenn’ ich was der Weise spricht:
443„Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
444„Dein Sinn ist zu, dein Herz ist todt!
445„Auf bade, Schüler, unverdrossen
446„Die ird’sche Brust im Morgenroth!“
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∞Er beschaut das
Zeichen.
447Wie alles sich zum Ganzen webt!
448Eins in dem andern wirkt und lebt!
449Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
450Und sich die goldnen Eimer reichen!
451Mit segenduftenden Schwingen
452Vom Himmel durch die Erde dringen,
453Harmonisch all das All durchklingen!
454Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!
455Wo faß’ ich dich, unendliche Natur?
456Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
457An denen Himmel und Erde hängt,
458Dahin die welke Brust sich drängt –
459Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht’ ich
so vergebens?
∞Er schlägt
unwillig das Buch um, und erblickt das Zeichen des
Erdgeistes.
460Wie anders wirkt dieß Zeichen auf mich ein!
461Du, Geist der Erde, bist mir näher;
462Schon fühl’ ich meine Kräfte höher,
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463Schon glüh’ ich wie von neuem Wein.
464Ich fühle Muth, mich in die Welt zu wagen,
465Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
466Mit Stürmen mich herum zu schlagen,
467Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
468Es wölkt sich über mir –
469Der Mond verbirgt sein Licht –
470Die Lampe schwindet!
471Es dampft! – Es zucken rothe Strahlen
472Mir um das Haupt – Es weht
473Ein Schauer vom Gewölb’ herab
474Und faßt mich an!
475Ich fühl’s, du schwebst um mich, erflehter Geist!
476Enthülle dich!
477Ha! wie’s in meinem Herzen reißt!
478Zu neuen Gefühlen
479All meine Sinnen sich erwühlen!
480Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
481Du mußt! du mußt! und kostet’ es mein Leben!
∞Er faßt das Buch und
spricht das Zeichen des Geistes geheimnißvoll aus. Es zuckt eine
röthliche Flamme, der Geist
erscheint in der Flamme.
∞Geist.
486Du flehst erathmend mich zu schauen,
487Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn,
488Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
489Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen
490Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?
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491Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf,
492Und trug, und hegte? Die mit Freudebeben
493Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
494Wo bist du, Faust, deß Stimme mir erklang?
495Der sich an mich mit allen Kräften drang?
496Bist du es? der, von meinem
Hauch umwittert,
497In allen Lebenstiefen zittert,
498Ein furchtsam weggekrümmter Wurm!
∞Geist.
501In Lebensfluthen, im Thatensturm
502Wall’ ich auf und ab,
503Webe hin und her!
504Geburt und Grab,
505Ein ewiges Meer,
506Ein wechselnd Weben,
507Ein glühend Leben,
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508So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
509Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
∞Verschwindet.
∞Faust
∞zusammenstürzend.
514Nicht dir!
515Wem denn?
516Ich Ebenbild der Gottheit!
517Und nicht einmal dir!
∞Es klopft.
518O Tod! ich kenn’s – das ist mein Famulus –
519Es wird mein schönstes Glück zu nichte!
520Daß diese Fülle der Gesichte
521Der trockne Schleicher stören muß!
∞
Wagner im Schlafrocke und der
Nachtmütze, eine Lampe in der Hand. Faust wendet sich
unwillig.
∞Wagner.
522Verzeiht! ich hör’ euch declamiren;
523Ihr las’t gewiß ein Griechisch Trauerspiel?
524In dieser Kunst möcht’ ich was profitiren,
525Denn heut zu Tage wirkt das viel.
526Ich hab’ es öfters rühmen hören,
527Ein Kommödiant könnt’ einen Pfarrer lehren.
∞Wagner.
530Ach! wenn man so in sein Museum gebannt ist,
531Und sieht die Welt kaum einen Feiertag,
532Kaum durch ein Fernglas, nur von weiten,
533Wie soll man sie durch Überredung leiten?
∞Faust.
534Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen.
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535Wenn es nicht aus der Seele dringt,
536Und mit urkräftigem Behagen
537Die Herzen aller Hörer zwingt,
538Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,
539Braut ein Ragout von andrer Schmaus,
540Und blas’t die kümmerlichen Flammen
541Aus eurem Aschenhäufchen aus!
542Bewund’rung von Kindern und Affen,
543Wenn euch darnach der Gaumen steht.
544Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
545Wenn es euch nicht von Herzen geht.
∞Wagner.
546Allein der Vortrag macht des Redners Glück;
547Ich fühl’ es wohl, noch bin ich weit zurück.
∞Faust.
548Such’ Er den redlichen Gewinn!
549Sey Er kein schellenlauter Thor!
550Es trägt Verstand und rechter Sinn
551Mit wenig Kunst sich selber vor;
552Und wenn’s euch Ernst ist was zu sagen,
553Ist’s nöthig Worten nachzujagen?
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554Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
555In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
556Sind unerquicklich, wie der Nebelwind,
557Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!
∞Wagner.
558Ach Gott! die Kunst ist lang;
559Und kurz ist unser Leben.
560Mir wird, bey meinem kritischen Bestreben,
561Doch oft um Kopf und Busen bang’.
562Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
563Durch die man zu den Quellen steigt!
564Und eh’ man nur den halben Weg erreicht,
565Muß wohl ein armer Teufel sterben.
∞Faust.
566Das Pergament, ist das der heil’ge Bronnen,
567Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?
568Erquickung hast du nicht gewonnen,
569Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.
∞Wagner.
570Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
571Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
572Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
573Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.
∞Faust.
574O ja, bis an die Sterne weit!
575Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
576Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
577Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
578Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
579In dem die Zeiten sich bespiegeln.
580Da ist’s dann wahrlich oft ein Jammer!
581Man läuft euch bey dem ersten Blick davon.
582Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer,
583Und höchstens eine Haupt- und Staatsaction,
584Mit trefflichen, pragmatischen Maximen,
585Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen!
∞Wagner.
586Allein die Welt! des Menschen Herz und Geist!
587Möcht’ jeglicher doch was davon erkennen.
∞Faust.
588Ja, was man so erkennen heißt!
589Wer darf das Kind bey’m rechten Namen nennen?
590Die wenigen, die was davon erkannt,
591Die thöricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten,
592Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
593Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.
594Ich bitt’ euch, Freund, es ist tief in der Nacht,
595Wir müssen’s dießmal unterbrechen.
∞ab.
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